Systemrelevant? Eine Selbstkritik (November 2020)

Text für einen Redebeitrag bei der Kundgebung im Märchenzelt Augsburg: „Kunst und Theater sind systemrelevant"

Im Frühjahr 2020 haben wir Kulturschaffende schnell kapiert: Wir haben schnell verstanden, was die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie für unsere Branche bedeuten. Wir haben befürchtet, dass das Jahr auftrittsmäßig gelaufen ist. Und für viele hat sich das bewahrheitet. Wir haben uns zusammengeschlossen, Papiere verfasst, Vorschläge und Konzepte entwickelt und auf unsere existentiellen Nöte und Sorgen hingewiesen. Ein paar Notgroschen sind geflossen – zu wenig, das tut weh. Gleichzeitig haben wir viel zugehört, uns Talkshows angeschaut, Artikel gelesen, uns mit Infektionszahlen befasst, so dass es im Sommer auch unter den Künstler*innen mehr Hobby-Virologen als Infizierte gab.

Wir haben dabei die gängigen Argumentationsmuster verinnerlicht und Diskussionen geführt, ob es sich bei uns nun um ein Berufsverbot handelt oder „nur" um ein Auftrittsverbot, durch das wir einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Wir haben uns selbst zensiert mit einer stillen Verabredung, nur über unsere existenzielle Notlage zu sprechen. Wir haben wenig Debatten über die Sinnhaftigkeit der Gesundheitsmaßnahmen führen wollen und wollten das den „Profis" überlassen. Aber wir hatten auch Angst. Angst als mehr oder weniger bekannte Personen des öffentlichen Lebens den „Querdenkern" zugeordnet zu werden und dafür keinen Applaus zu bekommen. Anstatt selbstbewusst kritisch zu denken, wie es uns beliebt, und selbstverständlich davon auszugehen, dass wir mit rechten Strömungen nichts zu tun haben, trauten wir uns wenig zu. Viele hielten bei Demonstrationen statt 1,50 m lieber gleich 5 Kilometer Abstand. Und im Fall von Kolleg*innen, die Kritik in Bezug auf die Regularien äußerten, wurden Witze gemacht: „Bist Du jetzt bei den Querdenkern oder was?" – ein Seitenhieb, der es in sich hat. Ganz schnell wurde so der Keim der Kritik erstickt, denn wer will schon im Abseits stehen, wenn wir aktuell sowieso nicht dazu gehören zu den systemrelevanten Berufen?

Es verwundert nicht, dass die letzte Aktion „Ohne Kunst und Kultur wird´ s still" dazu aufruft, still zu sein. Dabei sollten wir gerade jetzt laut sein. Wenn wir das nicht sind, schaffen wir uns selbst ab. Wir können nicht fordern, systemrelevant zu sein, wenn wir nichts zu sagen haben. Für Corona kann keiner was, aber für die Strategie, wie wir damit umgehen schon. Wir haben keine Lobby, aber wir haben uns. Wir sollten nicht im vorauseilendem Gehorsam aufhören, aktiv zu sein. Nun im Herbst mit dem zweiten Lockdown „Light", der vom Begriff daher kommt wie eine Diät, die der Gesundheit dient, geht es uns nicht gut. Das spüren wir und so werden wir nicht müde, zu beteuern, dass wir uns an alle Regeln gehalten haben, alle Hygienemaßnahmen befolgt haben. Dabei haben wir etwas viel Wesentlicheres vergessen: Die Kunstfreiheit ist ein wesentliches Grundrecht für die Demokratie!

Wir brauchen eine öffentliche Debatte, wie die Kunstfreiheit auch jetzt ermöglicht werden kann. Für freie Theater braucht es Experimentierräume, digitale Formate, finanzielle Mittel, um künstlerisch aktiv bleiben zu können, um neue Produktionen zu realisieren und neue Formate zu entwickeln. Wir brauchen weiterhin Live-Auftritte, einen Dialog mit dem Publikum und die Einhaltung des Menschenrechts kulturell teilhaben zu können. Wir sollten damit nicht aufhören, bis ein Impfstoff kommt. Aus Solidarität für die Gesellschaft.

Übrigens: Wir sollten auch nicht aufhören, uns zu verlieben, bis ein Impfstoff kommt. Auch wenn es aufgrund der aktuellen Kontaktbeschränkungen verboten wäre.

 
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